4. Interview

„Nun ja, lassen Sie mal sehen!“

Ich beuge mich zu ihm und er streicht mit dem Daumen über die Narbe meines linken Auges.

„Gut verheilt – Kokosöl?“
„Ja.“

Erst jetzt bemerke ich die Narbe unter seinem linken Auge. Hatte er sich ebenfalls Blut abnehmen müssen?
Der Professor lehnt sich im Ledersessel zurück und trommelt versonnen mit den Fingern auf dem Schreibtisch.

„Und, Herr Professor Doktor Kenroth? Bin ich eine Artificial Lifeform?“
Er lacht kurz und nickt.
„Wie bitte?“
„Ja, mein Lieber, natürlich sind Sie keine AL!“
„Na, da bin ich aber beruhigt. Aber, sagen Sie, Herr Professor Doktor Kenroth: wie haben Sie das herausgefunden?“
„Ganz einfach, mein Lieber: Ich habe Ihr Blut auf Polyethylenglykol untersuchen lassen.“
„Poly – was? Was ist das?“
„Nun, ja, ähem, lassen Sie mich mal so sagen: mit Polyethylenglykol macht man Hämoglobinmoleküle sperriger. Die Flüssigkeit wird zäher als das Originalblut. Sie nennen es MP4. Menschliche rote Blutkörperchen werden gefriergetrocknet und so jahrelang haltbar. Damit betreibt man Artificial Life (AL). Auf den ersten Schnitt ist ein Unterschied nicht zu erkennen, aber unter dem Elektronenmikroskop... Also, willkommen in der Gemeinschaft der Humanoiden!“

Kenroth beugt sich vor und reicht mir die Hand.

„Gut, da bin ich ja froh. Das habe ich verstanden. Mein Blut ist rot, deshalb bin ich Mensch.“
„Nein, das ist so nicht richtig! Hören Sie mir genau zu! Ihr Blut enthält kein Polyethylenglykol, deshalb sind Sie Mensch!“
„Gut. Auch richtig. Aber, warum haben Sie mich diesem Test unterzogen?“
„Nicht `auch richtig´, sondern `genau richtig´, mein Lieber! Ich habe Sie diesem Test unterzogen, um herauszufinden, ob Sie auf meiner Seite stehen.“
„Warum? Das verstehe ich nicht ganz.“
„Nun, eine A- Lifeform lebt sozusagen im Zustand einer Schwarmintelligenz. Ihre Erkenntnisse kommen dem gesamten Schwarm zugute. Und da ich hier ein wichtiges Projekt starte, ist es wichtig zu wissen, dass die Erkenntnisse darüber unter uns bleiben, wenn Sie verstehen. Sie verstehen doch?!“

Entgegen meiner ersten Einschätzung scheint der Professor ein ziemlich misstrauischer Mensch zu sein.

„Okay, jetzt ist aber alles gut, da ich kein Poly – dingsbums im Blut habe. Und warum sollte ich ausgerechnet 48 Stunden warten? Was geschah in dieser Zeit?“
„Nun, nach 48 Stunden hätte das künstliche Blut die Hälfte seiner Transportkapazität für Sauerstoff verloren. Sie wären also nicht mehr am Leben. Ähem, zumindest aber wäre Ihr Körper übersät von blauen Flecken.“

Ich kannte den Professor schon lange und hatte ihn bisher als sympathisch, ehrlich, welt- und redegewandt eingeschätzt. Zu diesem Eindruck gesellte sich nun ein merkwürdiges Gefühl. War er nicht der Mensch, für den ich ihn gehalten hatte? Verbarg er etwas?

„Okay, aber Sie untersuchen hier ja diese mysteriöse Bibliothek im World-Wide-Web und nicht mich.“
„Ja, mein Lieber. Aber, Sie scheinen nicht zu verstehen: Diese Bibliothek lebt! Zumindest wächst sie ständig. Und was ständig wächst, lebt. Betrachten Sie es als eine Art Zellteilung. Laut Impressum ist nur einer dafür verantwortlich: eine Persönlichkeit, die sich Michael Ruhnke nennt. Aber das kann nicht sein, denn ich habe herausgefunden, dass keines der Bücher je von außen hochgeladen wurde. Also muss es ein Vorgang innerhalb der Bibliothek sein.“
„Und das könnte eine AL hervorbringen?“
„Ja, mein Lieber, das kann sie.“

Der Professor erhebt sich, geht zu einem Schrank und holt zwei Whiskeygläser heraus.

„Auch einen?“
Er wartet meine Antwort gar nicht erst ab und schenkt ein.
„Zum Wohl!“
„Auf eine gute Zusammenarbeit!“

Wir stoßen an.

Er spült den Whiskey deutlich hörbar im Mund eine Weile hin und her, verdreht genüsslich die Augen, gurgelt und lässt den guten Tropfen schließlich die Kehle hinuntergleiten.

„Sie wollen also, dass wir zusammen arbeiten!“
„Ja, mein Lieber.“
„Und wie stellen Sie sich das vor, Professor?“
„Professor Doktor Kenroth, ja?!“

Seine Faust fährt ungewöhnlich heftig auf den Tisch. Ich zucke zusammen.

„Professor Doktor Kenroth, ja.“

Der Professor setzt sich und blickt mir tief in die Augen.

„Sie,  mein Lieber, werden sich die Bücher zu Gemüte führen.“
„Die Bücher aus der Bibliothek?“
„Ja und zwar alle.“
„Das kann aber sehr mühsam werden und viel Zeit und Geld kosten.“
„Na und? Was spielt das für eine Rolle, mein Lieber. Ich wiederhole es mal: irgendwo da draußen liegt die Erklärung, das Geheimnis dieser Bibliothek!“
„Gut,  okay, mit welchem Buch fange ich an?“
„Verlassen Sie sich auf Ihre Intuition, mein Lieber. Sie wissen doch: nicht Sie finden ein Buch... .“
„... sondern das Buch findet mich. Ja, ja, ich weiß.“
„Gut, ähem, wir treffen uns dann in meinem Büro einmal die Woche – sagen wir Dienstags 14.00 Uhr?“

Kenroth steht auf, schüttet den Rest Whiskey in sich hinein, als bekäme er nie wieder einen, und verabschiedet mich.

„Gut, Herr Professor Doktor Kenroth. Nächste Woche, Dienstag 14.00 Uhr.“

Er nickt und schon bin ich hinaus.

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